Es ist der 4. Oktober 2020. Einer der letzten warmen und sonnigen Herbsttage in Mecklenburg-Vorpommern. 2 Tage in Halle an der Saale liegen hinter mir. Gefüllt mit guten Begegnungen und schönen Momenten, aber gefühlt immer im Fluss der Zeit, der viel zu oft sein eigenes schnelles Tempo hat. Manchmal möchte man aussteigen aus ihm. Stehen bleiben, verweilen, zeitlos Zeitloses beobachten. Also führt der Weg an diesem Tag nicht direkt zurück an die Küste, sondern an den Rand der Mecklenburger Seenplatte in das kleine Städtchen Penzlin, dessen Bild von einer massig emporragenden Kirche gekrönt wird. Ringsum das Gewimmel der Ziegeldächer. Eine Glucke mit ihrer Kükenschar. Ein wenig originelles Bild, aber doch passend. Eine friedvolle Stimmung liegt über der Stadt. Fern von jedem Trubel. Der Altar der St.-Marien-Kirche ist geschmückt. Man hat gerade erst noch den Erntedank Gottesdienst gefeiert. Hinter der Kirche schaut Johann Heinrich Voß auf seine alte Schule. Johann Heinrich Voß, ein Mecklenburger, der die Epen Homers erstmalig in die deutsche Sprache übersetzte. Vorbei an Fachwerk, alten Ziegeln, wilden Weinranken und Antennen, die wohl immer noch den Westfunk suchen, führt der Weg an den Großen Stadtsee. Funkelnd liegt er da in der Nachmittagssonne. Der Spielplatz verwaist, nur am Imbiss treffen sich ein paar Rentner zu einem Plausch.
Begibt man sich dann vom See aus Richtung der Alten Burg, so stößt man auf einen Stein am Strassenrand. „Wer Heimat nicht kennt, kann Heimatverlust nicht erleiden.“ steht auf ihm geschrieben. Dieses Zitat stammt von Günter de Bruyn, einem der wohl besten Kenner der brandenburgischen Mark. Mich stimmt es an diesem Nachmittag sehr nachdenklich. Einige Tage später erfahre ich, dass Günter de Bruyn just an diesem Nachmittag des 4. Oktobers in seinem Heimatdorf verstorben ist. Zufälle, die vielleicht manchmal keine sind.
Während das Zitat von Günter de Bruyn noch in mir wirkt, werfe ich einen Blick auf die Alte Burg Penzlin. Hier, wo früher die Familie Maltzahn lebte und Hexen gefoltert und abgeurteilt wurden, gibt es heute ein Museum mit den Schwerpunkten Hexenverfolgung und Alltagsmagie in Mecklenburg. Von der Burg aus verfängt sich der Blick wieder auf die Dächer der Stadt Penzlin, mit ihrer alles überragenden Kirche. Ein wahrhaftig schöner Anblick. So schön legte man also einst Städte an. Ein paar wenige Häuser im Zentrum warten noch immer auf ihre Rettung. Alte Werbung ziert die Wände. Geschichten, die irgendwann einfach endeten. Abrupt. Für niemanden bewußt. Langmut contra Zeit.
Von Penzlin aus führt der Weg weiter Richtung Norden. Der Blick reicht weit an diesem Tag, Wolken türmen sich am Horizont, aber die Sonne scheint und es ist warm. So als wäre das Wetter auf diesen Nachmittag, auf diese Route abgestimmt. Am Zieskensee stoppe ich und genieße die Stille. Sanft wiegt das Wasser. Ein Angler treibt auf dem Wasser und einige Damen aus den umliegenden Dörfern drehen ihre letzten Schwimmrunden des Jahres. Ein paar hundert Meter weiter liegt das Dorf Puchow mit seinem leer stehenden Gutshaus und einer immer noch beeindruckenden Gutsanlage. Unter dem Rascheln der Blätter im Herbstwind bleibt man stehen, lässt den Blick ruhen und versucht sich vorzustellen, wieviel Leben hier wohl früher herrschte, wieviel Mühen, Staub und Schweiß hier die Menschen auf ihren Gesichtern trugen. Unterhalb des Dorfes liegt der kleine Wokuhlsee, was vermutlich soviel heißt wie die „Örtlichkeit, wo Barsche leben“. Bis in die neunziger Jahre war der See wohl auch noch zahlreich mit Krebsen besiedelt. Heute liegt er immer noch umringt von Erlen, Weiden und Eichen in seiner Senke. Nichts modernes trübt den Blick. Kein Strommast, kein Windrad und keine als Wohnhaus getarnte Baustoffsammlung. Hier mag man als Wanderer gerne ruhen.
Ruhen mag man auch wieder 2 Dörfer weiter in Wrodow, wenn das Auge beim Wiesenblick über die Landschaft wandert. Unruhig wirkt lediglich der Dorfkern. Hier haben Zugezogene „moderne Kunst“ aufgestellt und alte, rote Backsteinscheunen weiß übertüncht. Schön ist das nicht. Das Schloss hingegen hat Potential, schöne Räume und viel Platz. Die Zukunft von Wrodow hält noch viele leere Seiten bereit, die von mannhaften Seelen mit Tinte gefüllt werden wollen. Folgt man dann der Allee Richtung Norden, so streift man Mölln (Mecklenburg) und die Bahnstrecke Lübeck- Stettin. Der Bahnhof steht leer und verfällt. Decken fallen in die Tiefe. Regen tropft durch das Dach. Das hier auch einst eine Güterabfertigung existierte, kann man nur noch erahnen.
Der Bahnsteig „modernisiert“. Der nicht mehr gebrauchte Sicherungskasten aufgebrochen. Vor dem Bahnhof findet sich eine große Blechbüchse. E-Bikes waren hier einmal ausleihbar. Dann liefen die Fördermittel aus. Homepage und App wurden abgeschaltet und der Schrott bleibt liegen. In Berliner Ministerien interessiert man sich nicht mehr dafür. Wahrscheinlich sind die damals zuständigen Mitarbeiter auch schon weitergezogen. Man bleibt nicht, man fühlt sich nicht mehr verpflichtet. Der ehemalige Bahnhofsvorsteher von Mölln mag das anders gesehen haben. Damals, als der Schnellzug von Hamburg nach Stettin diese Haltestelle noch täglich durchfuhr. Ein Fenster in eine vergangene Zeit bietet auch die kleine Dorfkirche von Mölln und die Kreuze und Grabinschriften des Friedhofs. Folgt man der Spur der Geschichte, so berührt man wieder slawische Burgen, alte Güter und findet zu einem Ort namens Kastorf. Hier am Gutshaus drehte der deutsche Dokumentarfilmer Volker Koepp kurz vor der Wende einst sehr berührende Szenen für seinen Dokumentarfilm „Arkona-Rethra-Vineta – Eine Reise zu versunkenen Orten“. Auf dem damals sandigen Weg vor dem Gutshaus sprach er mit Bewohnern und Anwohnern. Eine der Frauen legte dabei auch ihre ostpreußischen Wurzeln offen. Wie oft sie sich wohl heimlich nach ihrer Heimat gesehnt hat. Ebenfalls hier in Kastorf, am Ufer des Kastorfer Sees, entstanden für den gleichen Dokumentarfilm viele Gesprächsszenen mit dem Archäologen Volker Schmidt, dessen Wikipedia Eintrag einen nachdenklichen Blick wert ist. Hier am Kastorfer See vermutet man den Mittelpunkt des Stammes der Tollenser. Aktuell dreht Volker Koepp einen neuen Dokumentarfilm mit dem Arbeitstitel „Chronos“ und laut Medienberichten handelt er vom Lauf der Zeit. Hier in Mecklenburg ist er überall sichtbar, spürbar, erlebbar. „So viele Möglichkeiten, so viele Strecken und so viele Geschichten und nur ein Leben…“ (Jaroslav Rudiš). Leben. Erleben.
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